Das Fenster 2021/22

Als Reaktion zur Installation das Fenster entstand die Ausstellung:

Bild & Gegenbild

Begleitausstellung zur Kunstinstallation „Das Fenster“ von Susanne Hopmann

Die Ausstellung erinnert anhand ausgewählter Fotos und Plakate an das bewegte Jahr 1990 und die große Präsenz von Wahlwerbung der Parteien und Organisationen im öffentlichen Raum. Sie entstand in Zusammenarbeit mit der evangelischen Innenstadtgemeinde und den Görlitzer Sammlungen.

Das Fenster

Zu der als Beitrag zur Ausstellung „Görlitzer Art 2021/2022“ an der Südseite der Frauenkirche angebrachten Arbeit „Das Fenster“ sagt die Künstlerin Susanne Hopmann: „Das Foto des Görlitzer Fotografen Volker Bachschneider zeigt Plakate im Verfall, als gehörten sie schon zur Zeit der Aufnahme (1994) einer fernen Vergangenheit an. Durch das Objekt ‚Das Fenster‘ treten sie in die Gegenwart. Der ambivalente Einsatz der Slogans ist kritisch zu betrachten. Das Zitat von Willy Brandt (1969) ‚Wir wollen mehr Demokratie wagen‘ steht am Anfang einer Rezeptionsgeschichte, die hier in einem historischen Ausschnitt sichtbar wird und sich gegenwärtig fortsetzt. Manchmal wird systematisch vorgegangen: den Demokratiebegriff nutzen um die Demokratie anzugreifen.“

Das verfallene Haus war ein Zeugnis der verfehlten Bau- und Wohnungspolitik in der ehemaligen DDR. Mit den von der SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands) staatlich verordneten billigen Mieten konnten weder der Unterhalt noch die Modernisierung der Bausubstanz sichergestellt werden. Das bittere Bonmot „Ruinen schaffen ohne Waffen“ machte daher im Volksmund die Runde.

Losgelöst vom historischen Görlitzer Ortsbezug reflektiert „Das Fenster“ Grundfragen der Demokratie und des gesellschaftlichen Miteinanders. Der Zustand der Plakate spricht für Vernachlässigung. Zwar sind die Worte „Mehr Demokratie wagen“ noch lesbar, die zahlreichen Beschädigungen sprechen aber für einen Interessensverlust. So kann „Das Fenster“ als eine Metapher für die Zerbrechlichkeit von Demokratie allgemein verstanden werden. Wenn Demokratie nicht immer wieder neu ausgehandelt wird, wenn nicht immer wieder um sie und für sie gestritten wird, gerät sie zur Routine, droht sich abzunutzen und schließlich in Frage gestellt zu werden.

Als Zeitzeuge erinnert sich Pfarrer i. R. Albrecht Naumann an die Situation in Görlitz:

Die Lösung der SED war der Abriss alter Gebäude und ihr Ersatz durch Betonplatten-Neubauten. An der Heiligen-Grab-Straße ist der Prozess noch heute anschaulich manifestiert. Im Herbst 1989 war schon die untere Heilig-Grab-Straße entwohnt und zur Abrisssprengung vorbereitet. Beim Fortbestand der DDR über 1990 hinaus, sähe jetzt alles aus wie oberhalb der Hohen Straße. Die heute denkmalgerechte Sanierung der Görlitzer Altstadt 1 – Langenstraße Herbst 1989, Foto: Werner Hahn/Kulturhistorisches Museum Görlitz 2 – Schönhof Herbst 1989, Foto: Werner Hahn/Kulturhistorisches Museum Görlitz ist dem Ende der SED Wohnungspolitik zu verdanken. Dass ausgerechnet Plakate der PDS, der direkten Nachfolgepartei der SED in dieser morbiden Umgebung nach Jahren als Zeugnis für den Wunsch nach demokratischem Aufbruch gelesen werden, entbehrt nicht einer boshaften und geschichtsvergessenden Ironie.“

Erläuterungen zur den beiden PDS Plakaten des Kunstwerks:

  1. Mehr Demokratie wagen

Mit dem Satz „Wir wollen mehr Demokratie wagen“ umriss Bundeskanzler Willy Brandt 1969 in einer Rede vor dem Bundestag sein Regierungsprogramm. Der SPD-Politiker stand für eine freiheitliche Demokratie, deren Ausprägung er maßgeblich mitgestaltete. Für ihren Wahlkampf 1990 vereinnahmte die PDS das Zitat und stellte sich damit formal in die Tradition sozialdemokratischer Politik in der alten Bundesrepublik. Nur wenige Monate zuvor hatte die SED noch die Auffassung vertreten, dass nur die „Diktatur des Proletariats“ die einzige vollentwickelte und wahre Demokratie sei. Von ihrem Absolutheitsanspruch machte die SED in jedem gesellschaftlichen Bereich Gebrauch und ordnete ihm alles unter. Die Verwendung des Brandt-Zitats durch die PDS kann daher als eine bewusste Geschichtsklitterung und gezielte Wählertäuschung verstanden werden.

  1. Mut zu neuen Mehrheiten

Der Ursprung dieses auch heute noch gern von anderen Parteien genutzten Slogans ist nicht geklärt. Seine Verwendung zeigt Koalitionsbereitschaft an. 1990 ging die PDS offensichtlich davon aus, sich bei den Wahlen wiederum Mehrheiten in den Parlamenten sichern zu können. Nach der ersten Wahl in der Sowjetischen Besatzungszone 1946, bei der noch über Einzelparteien abgestimmt werden konnte, hatte die SED mit der Schaffung einer „Nationalen Front“ ihren Führungsanspruch dahingehend gesichert, dass Kandidaten aller Parteien nur noch im Block gewählt werden konnten und Gegenstimmen damit nahezu unmöglich wurden. Zusätzlicher Druck auf Wähler und die Fälschung von Wahlergebnissen sorgten regelmäßig für eine fast 100%ige Zustimmung zur Politik der SED. Worin die PDS 1990 allerdings „neue“ Mehrheiten sah, ließ sie offen.

Zeitzeuge Pfarrer i. R. Albrecht Naumann:

Die in Massen und in allen Größen verteilten PDS-Plakate konnten die Wähler von 1990 nicht darüber täuschen, dass noch immer die SED mit ihren 45.000 Hauptamtlichen und ihrem, dem Volkseigentum entwendeten Partei-Vermögen die logistische und finanzielle Basis der PDS war. Man kannte den Wolf im Schafspelz.“

18. März 1990 – freie und geheime Wahlen in der DDR

Im Herbst 1989 formierte sich in der DDR eine breite Bürgerbewegung, die Veränderungen der politischen Verhältnisse einforderte und die „führende Rolle“ der SED infrage stellte. Auch in Görlitz gründete sich am 21. Oktober 1989 die bürgerschaftliche Plattform „NEUES FORUM“, um einen demokratischen Veränderungsprozess einzuleiten und am „Runden Tisch“ aktiv zu begleiten. Es folgten landesweite Kundgebungen, die freie und geheime Wahlen einforderten, so auch in Görlitz am 2. Dezember 1989. Da sowohl der Übergangsregierung von Hans Modrow als auch dem Zentralen Runden Tisch in Berlin die demokratische Legitimation fehlten, wurden Neuwahlen für den 6. Mai 1990 vereinbart. Durch den jedoch an Stärke rasant zunehmenden Ruf nach der deutschen Wiedervereinigung wurde die Wahl auf den 18. März 1990 vorverlegt. Damit sollte der Weg für die Aufnahme von Verhandlungen zum Beitritt der DDR zur BRD durch eine frei gewählte Regierung ermöglicht werden.

Zeitzeuge Pfarrer i. R. Albrecht Naumann:

Ab Dezember 1989 gewann das Thema Wiedervereinigung zunehmend an Dynamik. Helmut Kohls 10-Punkte-Plan zur Deutschen Einheit, das dauerhaft hohe Niveau der Abwanderung junger Menschen aus der DDR seit der Reisefreiheit am 9. November 1989 und die Aussicht auf den Erfolg der Zwei-plus-Vier-Gespräche überlagerten schnell das Thema einer Demokratisierung der DDR. Die Bereitschaft der Menschen, Kraft in eine erneuerte DDR zu investieren, zerbröselte unter der Option einer baldigen deutschen Einheit, dem Zugang zur D-Mark und westlichem Wohlstand. Das eigentliche Wahlkampfthema war: Wer weist den besten und schnellsten Weg zur Deutschen Wiedervereinigung?“

Zur Wahl der Volkskammer stellten sich 23 Parteien und Organisationen, die durch Listenbildungen mehr als 50 politische Gruppierungen vertraten. Die etablierten Parteien der BRD unterstützten passende Partner unter den Parteien und Bürgerbewegungen in der DDR und investierten mit Logistik und materieller Unterstützung in den Wahlkampf. Die SED-Nachfolgepartei PDS war mit noch immer 890.000 Mitgliedern und umfangreichen finanziellen Ressourcen aus dem SED-Altvermögen den neu gegründeten Gruppierungen hinsichtlich Organisation, Parteidisziplin und Erfahrung weit überlegen. Die Bürgerbewegungen, die keine Unterstützung aus der BRD erhielten, blieben ohne Wahlkampfhilfe auf eigene Ressourcen angewiesen. Ihre Wahlkampfwerbung hatte noch lange den Charme von Untergrundzeitungen. Als Sieger der Wahl vereinte die CDU 40,8% der Stimmen auf sich, die SPD erreichte als zweitstärkste Kraft 21,9%, die PDS 16,4%. Weit abgeschlagen mit 2,9% fuhren die im Bündnis 90 vereinigten Bürgerbewegungen ein enttäuschendes Ergebnis ein. Das Votum war klar: Die DDR war abgewählt.

Zeitzeuge Pfarrer i. R. Albrecht Naumann:

Die Bürgerbewegung NEUES FORUM war von ihrer Rolle als Helfer zur Demokratie so erfüllt, dass sie die Bürger nur zur Stimmabgabe aufrief. Das Wahlgesetz sah vor, dass nur in der DDR registrierte Parteien an der Wahl teilnehmen dürfen. Die Bürgerbewegung NEUES FORUM tat sich damit schwer und trat erst spät mit anderen Bürgerbewegungen im „Bündnis 90“ zur Wahl an. Auf inhaltliche Wahlkampfversprechen verzichtete das NEUE FORUM in der Erwartung, dass die Leistung für den friedlichen Weg aus der Diktatur vom Wähler honoriert wird.“

Plakate Plakate Plakate

Das Jahr 1990 war ein Jahr der Wahlen. Viermal stimmten die Bürgerinnen und Bürger in der DDR bzw. in den fünf neuen Bundesländern und Ost-Berlin über die zukünftige politische Entwicklung ab: am 18. März bei der Wahl zur Volkskammer der DDR, am 6. Mai bei der Kommunalwahl, am 14. Oktober zur Landtagswahl und am 2. Dezember bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl. Aufrufe und Plakate von Parteien und Organisationen zeigten in dieser Zeit auch in Görlitz eine starke Präsenz im öffentlichen Raum.

Plakate aus der Sammlung der Oberlausitzischen Bibliothek der Wissenschaften

Die Ausstellung ist ein Gemeinschaftsprojekt der Evangelischen Innenstadtgemeinde und der Görlitzer Sammlungen.

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